In der Bereitschaft zum Flug

Im Schweben der Ikarus-Flugversuche hat sich Gisela Krause gleichsam abgehoben, ohne die erdgebundene Bedingtheit zu verlieren. Das Thema des Menschen bat in dieser zyklischen Werkgruppe – bis 21. November in der Galerie lngrid Merz – eine völlig neue, überraschend befreiende Dimension gewonnen.

Dass Gisela Krause gegenwärtig von grossen Räumen und Wänden träumt, ist sichtbar; es hat sich niedergeschlagen in der jüngsten Schaffensphase. Die Expansion manifestiert sich in thematischer Intensität wie in der Lust am grossen Format so heftig, da sich Erfahrungen, Hoffnungen, Erlebnis des Scheiterns und gleichzeitig ungebrochener Mut zu neuem Aufschwung konzentrieren. Das Spannungsverhältnis zwischen den vom Alltag gesetzten Grenzen und der künstlerischen Befreiung zur Selbstverwirklichung hat in der Ikarus-Thematik ihren archaischen Ursprung.

Ursprung zwischen Absturz und Start

Gisela Krause hat sich verändert. Damit muss sich der Betrachter auseinandersetzen. Frühere Arbeiten mögen im Vergleich brav erscheinen. Der Farbe von einst setzt die jetzt explodierende Kraft die Ehrlichkeit schwarzweisser Enthaltsamkeit entgegen und verstärkt sich in den Zwischentönen. Es sind die Zwischentöne, die auch dem Farbeinsatz, wo er auftritt, Charakter geben.

Das Wort “Ursprung” erhält eine wörtliche Wirkung. Gisela Krause hat zwischen Absturz und Start den Ur-Sprung gewagt- und damit zum Flug der Gedanken angesetzt. Sie hat eine Schwelle überschritten, hinter der das Scheitern Antrieb zu neuem Wagnis bedeutet. Solche Freiheit brennt, umsomehr, als sich eine innere Ruhe auszubreiten vermag. Die Aufhebung der Gegensätze führt in die Schwerelosigkeit ungeschaffenen Seins, das sich konkretisiert.

Verflochtener lkarus

“lkarus verflochten” – ein Schlüsselbild. Im Absturz die Lebenskraft zu neuem Start. Den Wunsch des einstigen Vogelmenschens mit dem Ziel eigener Verwirklichung verknüpft. So verflochten ist das Schaffen Gisela Krauses heute. Absturz – das Zeichen zum Start, keine endgültige tragische Auswegslosigkeit, sondern im Gegenteil aus der Erinnerung an den Flug das Gefäss der Freiheit. Und wer die Freiheit erlebt hat, kann sie nie mehr verlieren. Den Betrachter, der solche Feuertaufe noch nicht erfahren hat, mag der malerische Ausbruch befremden. Er muss sich aber exponieren: Um Einblick und Überblick zu gewinnen, muss er in sich gehen und gleichzeitig über sich schweben. Gisela Krause bindet diese beiden Ebenen in ihrer Malerei zusammen. So darf man auf ihren weiteren Weg gespannt sein. Er verläuft zwischen Tag und Nacht, im Auf und Ab von hell und dunkel und sammelt Erdberührung im gewaltigen Moment der Freiheit.

Roland Mattes, Ostschweiz